Geschichten kunterbunt

                                                               LICHT

Ein König hatte zwei Söhne. Als er alt wurde, da wollte er einen der beiden Söhne zu seinem Nachfolger bestellen. Er versammelte die Weisen seines Landes und rief seine Söhne herbei.
Er gab jedem der beiden Söhne fünf Silberstücke und sagte:
"Füllt für dieses Geld die Halle im Schloss bis zum Abend.
Womit, das ist eure Sache!"
Die Weisen sagten: "Das ist eine gute Aufgabe".
Der älteste Sohn ging davon und kam an einem Feld vorbei, wo die Arbeiter dabei waren, das Zuckerrohr zu ernten und in einer Mühle auszupressen. Das ausgepresste Zuckerrohr lag nutzlos umher.  Er dachte sich:" Das ist eine gute Gelegenheit; mit diesem nutzlosen Zeug die Halle meines Vaters zu füllen". 
Mit dem Aufseher der Arbeit wurde er einig, und sie schafften bis zum späten Nachmittag das ausgedroschene Zuckerrohr in die Halle.
Als sie gefüllt war, ging er zu seinem Vater und sagte: "Ich habe deine Aufgabe erfüllt. Auf meinen Bruder brauchst du nicht mehr zu warten. Mach mich zu deinem Nachfolger!"
Der Vater antwortete:
"Es ist noch nicht Abend. Ich werde warten!"
Bald darauf kam auch der jüngere Sohn. Er bat darum, das ausgedroschene Rohr wieder aus der Halle zu entfernen. So geschah es. Dann stellte er mitten in die Halle eine Kerze und zündete sie an. Ihr Schein füllte die Halle bis in die letzte Ecke hinein. Der Vater sagte: "Du sollst mein Nachfolger sein. Du hast die Halle mit Licht erfüllt, mit dem, was Menschen brauchen."

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                                  Die Geschichte von den vier Kerzen

In einem dunklen Raum stehen vier Kerzen.
Ein Kind betritt den Raum, zündet die vier Kerzen der Reihe nach an und erfreut sich an ihrem Glanz. Die vier Kerzen brennen ein Weile, da fängt die erste an zu flackern und spricht: "Mein Name ist Ehre, die Menschen haben all ihre Ehre verloren" und erlischt. Nach kurzer Zeit fängt die zweite Kerze an zu flackern und sagt: "Ich heiße Glaube, die Menschen haben keinen Glauben mehr", und auch sie verliert ihr Licht. Nun beginnt auch die dritte zu flackern und spricht: "Mein Name ist Frieden. Frieden gibt es heute nicht mehr" Und geht aus. Das kleine Kind fängt an zu weinen und ruft: "Aber ihr seid doch Kerzen und ihr sollt doch brennen!" Da spricht aus der Stille des Raumes die vierte Kerze: "Ich heiße Hoffnung, solange ich noch brenne, kannst Du mit meinem Licht die anderen Kerzen wieder anzünden."
Mit der vierten Kerze zündet das Kind die anderen drei Kerzen wieder an und verlässt den Raum
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                                                Das zerzauste Haar

Es war einmal ein kleines Mädchen mit Namen Alfonsine. Es war ein hübsches kleines Mädchen, nur hatte es ständig zerzauste Haare. „Wie ist das nur möglich?“, fragte sich ihre Mutter besorgt und begann ihre Tochter zu beobachten.
Das kleine Mädchen saß im Sportwagen, und wenn keiner zuschaute, drehte es sich um, schaute in alle Himmelsrichtungen und versuchte, aus dem Sportwagen auszusteigen.
Wenn es mit den Puppen, Bärchen und Autos alleine war, spielte es oft „ein großes Fest“.
Was war ein großes Fest für Alfonsine?
Ganz einfach. Sie ließ die Puppen tanzen. Die Bären machten Musik. Die Spielautos wurden als Festschmuck aufgetürmt. Und als Höhepunkt der Feier machte Alfonsine eine große Fahrt mit ihren Puppen und Bären, nahm sie alle in ihre Arme, hob sie in die Luft wie ein Flugzeug, rollte sich mit ihnen auf dem Boden wie in einer Achterbahn und warf sie in die Badewanne, damit alle schwimmen konnten.
Als sie Wasser in die Badewanne einlassen wollte, rief ihre Mutter: „Jetzt ist aber gut!“
Alfonsine war wütend und warf sich auf die Erde.
Ihre Mama verbot ihr, sich immer die Haare zu zerzausen und sich auf dem Boden zu wälzen. Ausserdem sollte sie fragen, wenn sie Wasser in die Badewanne einlassen wollte.
Alfonsine war sauer, sagte aber nichts.
Und wenn ihre Mama nicht zusah, ließ sie ihren Bär auf dem Dreirad durch den Garten fahren, an den Hecken vorbei, unter den Bäumen durch und durch Mamas duftende Blumenbeete. Ihre Haare flogen durch den Wind, blieben in den Hecken hängen, und eine Blumenblüte blieb im Schopf hängen.
Am Abend hatte Alfonsine wieder zerzauste Haare.
„So geht das nicht weiter“, dachte sich ihre Mutter und kaufte sich einen großen Kamm. Er war wirklich sehr groß, aber Alfonsines Mutter wollte sicher gehen, dass sie ihre Tochter nicht mehr mit zerzausten Haaren sehen musste.
Und sie kämmte ihre Tochter. Alfonsine mochte das nicht. Aber tatsächlich hatte sie jetzt schöne, glatte Haare. „Jetzt habe ich eine hübsche Tochter“, sagte ihre Mama.
Alfonsine sagte nichts, weil sie beleidigt war. Und so verging Jahr um Jahr.
Jedes Mal wenn Alfonsine mit zerzausten Haaren nach Hause kam, sagte ihre Mutter: „Ich muss dich kämmen.“ „Ich will aber nicht."
„Du hast keine Wahl“, erklärte ihre Mutter und holte wieder den großen Kamm heraus.
„Ich mag dich nicht“, rief Alfonsine wütend. „Das sagt man aber nicht zu seiner Mutter.“
„Ich mag dich nicht“, wiederholte Alfonsine noch wütender. Aber ihre Mutter hörte nicht auf sie und kämmte sie weiter.
Alfonsine wurde älter. Und eines Tages entschied ihre Mutter: „Du musst dich jetzt selbst kämmen.“
„Ich will nicht.“   „Dann hast du aber zerzauste Haare.“
„Na und?“          „Willst du ganz hässlich sein?“
„Egal.“               „Was willst du mir beweisen?“
„Nichts.“            
Alfonsine und ihre Mutter sprachen immer weniger miteinander.
Eines Tages bemerkte ihre Mutter, dass ihre Tochter ganz rote Haare auf der rechten Kopfseite hatte.
„Hast du dir die Haare gefärbt?“  „Na und?“
„Das ist aber nicht schön.“        „Heute Nachmittag färbe ich sie mir die andere Seite blau.“
„Das tust du nicht.“                  „Das tu ich doch.“
„Nein.“                                    „Doch.“
Alfonsine bekam Hausarrest und durfte nicht zu ihren Freunden. Doch als ihre Eltern sie nach draußen ließen, ging sie zu ihren Freunden und färbte sich die Haare blau, so wie sie angedroht hatte.
Alfonsine wurde zu einem Punk, einmal mit grünem, mal rosa, mal gelbem Haar. Nie benutzte sie einen Kamm. Sie hatte ganz zerzauste Haare. Aber trotzdem mochten ihre Freunde sie gern. Denn Alfonsine war eine gute Freundin. Und darüber hinaus war sie auch der schönste Punk der ganzen Stadt. Ihre Mama war ganz traurig, konnte aber nichts machen.
Alfonsine zog von Zuhause aus und gründete eine Wohngemeinschaft mit einem Jungen aus der Universität.  Dann – schneller als sie gedacht hatte – wurde Alfonsine selbst zur Mama. Sie freute sich riesig, denn ihr Baby war ein ganz süßes kleines Mädchen.
Und Alfonsine versprach sich, ihrer Tochter das beste Leben geben zu wollen, das sie sich vorstellen konnte. Und sie konzentrierte sich ganz feste darauf. Und wollte nichts falsch machen.
Sie nahm sich viel Zeit für ihre Tochter, doch die hatte ständig zerzauste Haare.
„Wie ist das nur möglich?“, fragte sich Alfonsine besorgt und begann ihre Tochter zu beobacht
en .…

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                    Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Es war eine kleine alte Frau, die bei der zusammengekauerten Gestalt am Straßenrand stehen blieb. Das heißt, die Gestalt war eher körperlos, erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.

„Wer bist du?“ fragte die kleine Frau neugierig und bückte sich ein wenig hinunter.
Zwei lichtlose Augen blickten müde auf. „Ich ..., ich bin die Traurigkeit“, flüsterte eine Stimme so leise, dass die kleine Frau Mühe hatte, sie zu verstehen. „Ach, die Traurigkeit“, rief sie erfreut aus, fast als würde sie eine alte Bekannte begrüßen. „Kennst du mich denn“, fragte die Traurigkeit misstrauisch. „Natürlich kenne ich dich“, antwortete die alte Frau, „immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“
„Ja, aber ...“ argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du nicht vor mir, hast du denn keine Angst?“ „Oh, warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selber nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst und dich so nicht vertreiben lässt. Aber, was ich dich fragen will, du siehst - verzeih diese absurde Feststellung - du siehst so traurig aus?“
„Ich.... ich bin traurig“, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme. Die kleine alte Frau setzte sich jetzt auch an den Straßenrand.
„So, traurig bist du“, wiederholte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Magst du mir erzählen, warum du so bekümmert bist?“ Die Traurigkeit seufzte tief auf. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie vergebens versucht und ... „Ach, weißt du“, begann sie zögernd und tief verwundert, „es ist so, dass mich offensichtlich niemand mag. Es ist meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und eine Zeitlang bei ihnen zu verweilen. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Aber fast alle reagieren so, als wäre ich die Pest. Sie haben so viele Mechanismen für sich entwickelt, meine Anwesenheit zu leugnen.“
 „Da hast du sicher recht„, warf die alte Frau ein. „Aber erzähle mir ein wenig davon.“

Die Traurigkeit fuhr fort: „Sie haben Sätze erfunden, an deren Schutzschild ich abprallen soll.
Sie sagen „Papperlapapp - das Leben ist heiter“, und ihr falsches Lachen macht ihnen Magengeschwüre und Atemnot. Sie sagen: „Gelobt sei, was hart macht“, und dann haben sie Herzschmerzen. Sie sagen: „Man muss sich nur zusammenreißen“ und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: „Weinen ist nur für Schwächlinge“, und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe.
Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht spüren müssen.“

 „Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir oft in meinem Leben begegnet.
Aber eigentlich willst du ihnen ja mit deiner Anwesenheit helfen, nicht wahr?“
Die Traurigkeit kroch noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Ja, das will ich“, sagte sie schlicht, „aber helfen kann ich nur, wenn die Menschen mich zulassen. Weißt du, indem ich versuche, ihnen ein Stück Raum zu schaffen zwischen sich und der Welt, eine Spanne Zeit, um sich selbst zu begegnen, will ich ihnen ein Nest bauen, in das sie sich fallen lassen können, um ihre Wunden zu pflegen.
Wer traurig ist, ist ganz dünnhäutig und damit nahe bei sich. Diese Begegnung kann sehr schmerzvoll sein, weil manches Leid durch die Erinnerung wieder aufbricht wie eine schlecht verheilte Wunde.

 Aber nur, wer den Schmerz zulässt, wer erlebtes Leid betrauern kann, wer das Kind in sich aufspürt und all die verschluckten Tränen leerweinen lässt, wer sich Mitleid für die inneren Verletzungen zugesteht, der, verstehst du, nur der hat die Chance, dass seine Wunden wirklich heilen.
Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über die groben Narben. Oder verhärten sich mit einem Panzer aus Bitterkeit.“

Jetzt schwieg die Traurigkeit, und ihr Weinen war tief und verzweifelt. Die kleine alte Frau nahm die zusammengekauerte Gestalt tröstend in den Arm. „Wie weich und sanft sie sich anfühlt“, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Ich weiß, dass dich viele Menschen ablehnen und verleugnen. Aber ich weiß auch, dass schon einige bereit sind für dich. Und glaube mir, es werden immer mehr, die begreifen, dass du ihnen Befreiung ermöglichst aus ihren inneren Gefängnissen. Von nun an werde ich dich begleiten, damit die Mutlosigkeit keine Macht gewinnt.“

Die Traurigkeit hatte aufgehört zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete verwundert ihre Gefährtin. „Aber jetzt sage mir, wer bist du eigentlich?“ „Ich“, antwortete die kleine alte Frau und lächelte still.
„Ich bin die Hoffnung!“   - © Inge Wuthe -